Vom "Müssen" nichts zu müssen

Ich habe mal einen Text über die Freiheit gelesen. Seite Eins: Sieben Mal das Wort „müssen“.

Wir „müssen“ doch endlich mal begreifen, dass wir nichts müssen … und wir bemerken nicht, dass alle Ratgeber und Hoffnungen auch nur neue Hamsterräder sind, die uns irgendwo hinbringen „müssten“. Wie kann ich endlich ich selbst und frei sein, wenn ich mich doch erst zu irgendwem selbstoptimieren muss. Wir sind ok, jetzt. Erst dann ist Veränderung möglich, ist ein Weg zu beschreiten, den wir selbst auch endlich gehen und nicht der, der wir gern wären oder glauben zu sein, aber doch garnicht sind. Wenn wir nicht bei uns ankommen, kommen wir auch nirgendwo hin.

Am Ende sollte man auch irgendwann mal den Buddha und all die Lichtgestalten in der Vergangeheit zurücklassen und vor den Spiegel treten. Nichts braucht mehr Mut, als Ehrlichkeit – wer angeblich keine Angst mehr hat und frei ist, sollte sich auch nicht davor fürchten, endlich mal ganz Mensch zu sein. Wer die Einsamkeit, die Leere, die sich hinter aller Angst verbirgt, nicht konfrontieren kann, der kann die Fülle nicht annehmen.

Stattdessen brechen wir lieber nach 39 Tagen Wüste ab, weil die Angst vor der vermeintlichen Niederlage immer noch zu groß war, und wir reden uns stattdessen wieder die Dürre vollkommen – aber sprechen nie aus, was wir fühlen. Wir singen und erzählen über das Sein, das großes Glück und die unermessliche Freiheit, solange, bis wir es selbst wieder glauben wollen. Wir fühlen nurmehr, was wir gern fühlen wollen ….

Nirvana, Gott, Brahman, all das hier und da erlebte Unbeschreibliche … all das wollen wir gern sein, nur nicht das, was wir sind. Dabei ist doch schon das eigentlich so unbeschreiblich, wie alles andere, wenn wir nur aufhören würden, es uns so klein zu reden.

Welch allumfassende Zufriedenheit da einen doch ereilt, wo man nur seinen Frieden damit macht, dass nichts uns jemals allumfassend zufrieden stellen wird.

… wer nicht denkt und spricht, was er fühlt – wer sich seine Stärken und Schwächen nicht (selbst)bewusst macht, der kompensiert irgenwann mit immer mehr Voraussetzungen, die er gar nicht hat, Schwächen, die er nicht sehen will … und irgendwann dreht sich das um. Der Aufstieg und Untergang eines jeden Homo Fabulus! Doch was ist echtes Selbstbewusstsein?

Verurteilung, Machtgefühle und Überheblichkeit sind immer ein Zeichen von mangelndem Selbstbewusstsein – einem Nichtgewahrsein der eigenen Schwächen und damit der Selbstüberschätzung eigener Stärken. Menschen mit mangelndem Selbstbewusstsein suchen sich meist Opfer in der gleichen Selbstbewusstseins-Liga, denen die eigenen Schwächen jedoch zu bewusst und dafür die Stärken gänzlich unbekannt sind. So fühlen sie sich wenigstens überlegen und stärker. Das führt in Abhängigkeiten, zu Machtspielen und Demütigung. Allerdings sind solche „Beziehung“ nie in der Lage, das Selbstbewusstsein auf beiden Seiten tatsächlich zu stärken. Es sind Vermeidungs-Beziehungen, der eine geht seinen Schwächen, der andere seinen Stärken aus dem Weg. Wachstum ist so unmöglich, gegenseitige Wertschätzung ebenfalls. Lob aber eben auch Kritik eines Menschen ohne Selbstbewustsein, der nicht zu sich und dem steht, was er sagt, der Wahrheit und Ehrlichkeit meidet, kann im Gegenüber nichts bewirken, ist unecht, muss großgeredet werden, aber ist doch unglaubwürdig. Wer die Stärken des anderen nicht fördert und schätzt, der kann schwer sich von ihm dazu bringen lassen, sich seinen eigenen Schwächen zu stellen, sie anzunehmen und vor allem: endlich auch mal auszuleben. Der eine sehnt sich ingeheim nach Schwäche, der andere nach Stärke … was da für Lust und Energie fliessen könnten, wo man sich dem ausliefern würde. Stattdessen aber meist lieber Theater …

Es bedarf Demut und Wertschätzung des Gegenübers, damit das, was er sagt uns auch etwas bedeuten und berühren kann – und damit unser Selbstbewusstsein über unsere Stärken aber eben auch Schwächen aufbaut. Und nur so können wir die bewussten, wahren Stärken auch darauf verwenden, aus den uns nun bewussten Schwächen keine Blockaden mehr zu machen. Nur so ist Wachstum und Freiheit überhaupt möglich.
In einer Gesellschaft ohne selbstbewusste, STARKE Frauen zum Beispiel, die nicht respektiert und wertgeschätzt werden, wird es kaum selbstbewusste Männer geben, sondern nur solche, die sich maßlos in Machtfantasien überschätzen. In Beziehungen und Familien bedeutet dies, dass Männer und Söhne nie die bedingungslose Liebe einer selbstbewussten Frau oder Mutter annehmen können, sondern nur ihre fordernde und erdrückende Abhängigkkeit erleben und statt geliebt und wertvoll, sich nun gebraucht und unersetzlich halten. Statt Demut und Geborgenheit, Hochmut und Sicherheit … doch nur die Einsamkeit ist sicher, bei allen Beteiligten.

Was bleibt?

Was wir in Gefühlen nicht ausdrücken, das erdrückt uns in Gedanken. Den Lebensgeist im Herzen, erdrosseln wir im Kopf. Der Schlüssel zurück ins Gefühl ist, eben auch nur das auszusprechen, was man wirklich fühlt – auch wenn es oft mit dem Gefühl der Verzweiflung beginnt, dass man nichts mehr richtig fühlen kann. Man richtet nur weiteren Schaden an, wenn man sich und anderen einredet, dass man etwas empfindet, das man eigentlich aber nur gern empfinden würde.

Wir allein entscheiden, ob wir in einer Welt der Taten oder nur der Worte und Gedanken leben wollen – ob wir das Leben gestalten oder nur verwalten – ob wir leben oder gelebt werden wollen. Es ist so trivial …