Idealisierung und Entwertung

Der Kaffee kocht gleich, es ist also wieder Zeit für einen Text aus der Rubrik #Kaffeegedanken … meine tägliche Zäsur, ein Inhalten und Reflektieren brandaktueller Gedanken. Gerade noch saß ich auf dem Balkon, erinnerte mich an ein Gespräch von gestern, in dem es um idealisierende und entwertende Persönlichkeitsanteile in uns ging. Zwei Überzeugungen, zwei Stimmen, die ständig miteinander ringen. Die Geschwister aller Probleme, wie ich sie gern bezeichne. Die eine macht uns runter, kommt mit Schuldgefühlen und Angst daher; die andere zieht uns hoch und richtet uns wieder auf. Was für ein Theater eigentlich!
Und ich sehe mich da inzwischen als Mutter zweier Kinder auch. Halte den Laden halt zusammen. Koche, höre beiden Stimmen zu und schlichte wo es geht. Was Mütter eben so machen. Und abends kleb ich mir nen Schnurrbart ins Gesicht, fahre in eine Stripbar, lass mich volllaufen und hab für ewig genug von dieser Familie. Dann läuft Billy Joels Piano Man! Und am nächsten Morgen liegt ein neuer Tag in meinem Bett, sagte „Hallo Süße!“ und ich weiß nicht mal seinen Namen.
Umgehend mag man da auch an Sigmund Freud oder C.G. Jung denken wenn es um Persönlichkeitsanteile, um Entwertung und Idealisierung geht, – Themen, mit denen sich die Tiefenpsychologie bzw. die Psychoanalyse seit gefühlten Jahrtausenden schon herumschlägt …

Nun hörte ich gestern aber auch einem Pastor zu, wie er aus einer anderen Perspektive darüber sprach. Jedenfalls erkannte ich da überraschend große Schnittmengen.


Jeden einzelnen Tag, so hob er ab, würde er darum ringen, sich ganz in Gott hineinfallen zu lassen. „Die to Self, Surrender to Christ“, so war seine Ansprache untertitelt. Ich war überrascht einen Christen derart klar über den Akt der Selbsthingabe sprechen zu hören, über das „Self-Surrendering“, wie Ramana Maharshi es stattdessen nannte; oder „Komplettes Loslassen“ meine Nachbarin Hildegard.

Also blieb ich dran und hörte mir die ganze Rede an. Ich höre gern auch Christen zu, die derart ringen und suchen noch, und so offen sind auch. Er sprach ebenfalls über zwei Stimmen in uns, und er ordnete sie wenig überraschend der Stimme Gottes und dem Teufel zu. Und er sprach darüber, wie diese beiden Stimmen voneinander zu unterscheiden wären, und woher man wüsste, dass es wirklich Gottes Stimme sei, der man da folgen würde. Was er da ausführte, ja letztlich, was die Bibel selbst da ausführt, beschäftigte mich heute morgen wieder, denn es deckte sich an vielen Punkten noch besser jetzt mit ebendiesen Gedanken zu den idealisierenden oder entwertenden Persönlichkeitsanteilen in uns.

Der Pastor sagte etwas, das in mir hängen blieb: „Der Teufel ermuntert uns dazu, WEGZULAUFEN!, während Gott uns zurufe, zu ihm zu kommen und ihm zu folgen. Daran würden wir beide erkennen also!
Mir kam sofort das Thema „Nähe & Distanz“ in den Sinn, welches sich so wunderbar in diesem Bild beschreiben ließe. Die Nähe und Distanz zu mir selbst, zu anderen und zu allem. Das ewige Hin und Her. Und vielleicht erinnert ihr euch noch an mein Zitat von letzter Woche:



„Mein Wort für Gott ist Resonanz. Sich wirklich verbinden! Mit irgendwas, mit irgendwem [mit mir selbst auch!]. Denn Gott ist überall. Und ich bin in Gott, in allem, mit dem ich verbunden bin. Alles ist verbunden! Zu Gott zu finden, bedeutet sich hinzugeben. Ich brauche keinen Religion. Liebe und Mitgefühl, daran glaube ich“

Und letztlich ist mit diesem Verbinden, mit dieser Resonanz eben auch diese Nähe gemeint, von der ich hier spreche. Es geht natürlich nicht (nur) um die physische Distanz zwischen uns und anderen Menschen oder Dingen. Das leuchtet gewiss jedem ein. Nähe ist Resonanz, ist ein sich hingeben und miteinander schwingen und tanzen.

Nun, was hat mich heute so überrascht plötzlich? Dass da jedem von uns ein Teufelchen und ein Engelchen auf der Schulter sitzt, ist ja nun nichts Neues. Aber mir wurde tatsächlich klar, dass es zwei Richtungen gibt, zwischen denen wir uns entscheiden müssen. Immer.

Die eine Stimme mahnt uns „wegzulaufen“ … das kann man versinnbildlichen natürlich. Worte die ebenfalls dazu passen würden wären: NICHTS, entwerten, fliegen, verurteilen, herausgehen, Abstand, Abstraktion, auflösen, Verlust, klein machen, misstrauen, kontrollieren, relativieren, Vorstellung, Erinnerung, Zukunft, Vergangenheit usw. Bis hin zum Zerlegen von Allem und zur kompletten Flucht in die Gedanken hinein.

Die andere Stimme mahnt uns zu Gott „hinzulaufen“ … auch das ließe sich versinnbildlichen mit Worten wie: ALLES, Liebe, Vertrauen, Sein, bestärken, hineingehen, gewinnen, hingeben, nähern, erfahren, berühren, Gegenwart usw.

Eine Stimme zieht uns in die Natur der Dinge hinein, so wie sie sind, alles will erfahren werden. Und darin eröffnet sie uns überhaupt erst wieder das Stauen, kann uns berühren und überwältigen. Diese Stimme führt uns in den Himmel. Nicht als Ort, aber als Zustand. Hier, jetzt! Sein! Und folgt man dieser Stimme immer weiter, wandelt sich die Welt zu einem Wunder. Und man kann sogar über diese Welt hinausschreiten dann. Dieses Wunder ist unbegrenzt, der Himmel ist unbegrenzt, ist Licht. In tiefer Meditation zum Beispiel, in Trance, in einem klaren Traum oder auf einhundert Mikrogramm L.S.D. versteht spätestens jeder was ich mit „unbegrenzt“ und mit „Himmel“ meine. Etwas eben, dem wir uns umso mehr nähern, je mehr wir selbst darin fließen. Und alles um uns herum verändert sich auf magische Weise.

Die andere Stimme zieht uns entsprechend in die Hölle hinab. Gemeint ist das Nichts, ebenfalls grenzenlos! Es ist die Welt der Gedanken, die in sich eine Abstraktion in einem stockdunklen Schädel sind. In ihrer Natur also „leer“, illusorisch, unwirklich. Und diese Gedanken können den Himmel verschatten und ihn am Ende selbst komplett verdunkeln, ihn abstrahieren und jedes Wunder versuchen zu verstehen. Und hier regiert die Angst und alle ihre Geister. Am Ende aber führt dieser Weg eben ins Nichts. Geht man ihn allzu konsequent, ohne Ausgleich, führt er dazu, dass der Mensch selbst sich ins Nichts führt. Nichts mehr fühlt, nichts mehr versteht, keinen Grund mehr zum Leben hat. Welcome to Hell! Been there …

Im Symbol des Yin und Yang ☯ sind diese beiden Kräfte sehr gut beschrieben. Und jeder Kraft wohnt doch ein kleines bisschen der anderen Kraft inne … wenn ihr euch das Symbol einmal anschaut, dann erkennt ihr was ich meine. Im weißen Teil ist auch ein schwarzer Punkt, im schwarzen auch ein weißer.

Nun, wo will ich hin mit diesem Gedankenfluss heute?

Natürlich nirgendwo, sonst wäre es ja kein Fließen. Aber hier finden sich für mich jedenfalls zwei Schlussfolgerungen heute. Und eine davon hat mich überrascht, so klar habe ich sie noch nicht gesehen.


Der Buddhismus zum Beispiel spricht von sechs Daseinsbereichen. Der Götterhimmel, die Welt der Asuras & Titanen (Götterneider), die Menschenwelt, das Tierreich, die Welt der Pretas (hungrige Geister) und die Hölle.
Und ich skizziere nur ein Bild damit, aber lasst es mich bitte fertigmalen erstmal:

Und so sprach der Buddha: Der Mensch wäre in einer ganz besonderen Lage, denn sein Leben bedeutet oft ein Gleichmaß an Freude aber auch an Leiden, und er ist auch noch dazu fähig, rational über sich und die Welt nachzudenken. Während in den höheren Welten keiner der Götter und Halbgötter an die große Befreiung aus dem Leidenskreislauf (Samsara) denkt, und keinen Sinn in der Erleuchtung erkennt, weil es ihnen (noch) zu gut geht, haben die Wesen der niederen Welt einfach andere Dinge zu tun, sind voller Gier oder haben schlichtweg keinen Verstand. Dieses Bild lässt sich wunderbar auf uns Menschen selbst herunterbrechen übrigens.

Darum eben heißt es nun im Buddhismus, solle der Mensch nach Erleuchtung streben, denn die Wiedergeburt in dieser Welt wäre die denkbar günstigste Chance endlich zu erwachen. Und würden wir nicht mit aller Kraft danach streben, würden wir dieses Leben verschwenden. Und wer weiß, als was wir dann wiedergeboren würden. Das auch meint der Satz „The trouble is that we think we have time“, der dem Buddha gern zugeschrieben wird. Er meinte tatsächlich ähnliches!

 Aber zu erwachen woraus? Nun, aus dem Spiel des Yin und Yang, dem Spiel von Maya und Lila, auf einem Spielfeld, das vom Himmel bis in die Hölle hinabreicht. Da Spielen Götter, Asuras, Teufel und Dämonen .. diese Welt sei eine Illusion (Maya) und ihr Fürst heißt Mara … soweit die alten Schriften.

Warum bediene ich mich jetzt beim Buddhismus und bei diesem Bild?

 Nun, die erste Schlussfolgerung ist nicht ganz so schräg, wie die zweite gleich …



Sie lautet einfach: Wir müssen uns entscheiden, auf welche Stimme wir in uns hören! Und müssen lernen, besser zu unterscheiden. Wollen wir in den Himmel mal wieder, oder dass es uns eben besser geht, sollten wir diese Stimme wieder hören und ihr folgen, die uns da zuruft: „Komm und sei!“ Und sie wird sehr laut wenn wir das tun! Und sie spricht viele Dialekte eben. Und die andere Stimme, die uns mahnt „wegzulaufen“ und alles zu zerlegen, die wird wieder leiser dann. Und irgendwann verstummt sich nahezu komplett. Das ist Arbeit, braucht Bewusstheit und Achtsamkeit klar, aber löst 99% aller unserer Sorgen. EIGENTLICH ganz easy oder?! Aber komplizierte Gedanken schreien eben auch immer nach viel komplizierteren Lösungen. Also lasse ich das mal so stehen. Freier Wille und so, Selbstverantwortung, Entscheidungen … ihr wisst schon.

Die zweite Erkenntnis ist nur was für schräge Vögel, wie mich, denen das „nahezu komplett im Himmel“ nicht reicht, die wie immer Alles wollen, oder eben Nichts 😂 … alle anderen können hier aussteigen, versprochen.

Nun, dieses Gleichmaß an Freude und Leid, das dem Menschen idealweise zueigen ist, entspricht weitgehend auch dem Gleichmaß beider Persönlichkeitsanteile in uns, ein Gleichmaß an innerem Himmel und Hölle sozusagen. Und das Außen folgt dem Innen. Idealisierung und Entwertung, Fühlen und Denken, Liebe und Angst, Freude und Leid in weitgehender Balance. Wir stehen in der Mitte und mal pendeln wir nach links, mal nach rechts. Doch pendeln wir zu sehr, fallen wir um, verlieren uns. In dieser dualen Welt braucht alles immer seinen rechten Ausgleich und Kontrast.
Wir können mal in Richtung Himmel (!Er!füllung) schreiten, werden dann hier aber als Mensch auch nicht mehr funktionieren. Ebenso können wir in Richtung Hölle schreiten (Leerheit, Mangel) und uns dort am Ende ebenso verlieren.


Wir können aber sehr wohl beide Welten auch länger betreten, soweit in uns beide Welten im Ausgleich bleiben. Wer hoch hinaus will, der muss dazu auch tief hinunter. Und das ist nichts Neues, natürlich nicht! Und darum können wir die schönsten Erfahrungen keinem anderen beibringen, der nicht auch seine schlechtesten integriert hat.

Wir leben sozusagen auf einem schmalen Band weitgehendem Ausgleichs beider Welten, und Wachstum bedeutet nicht anderes, als dieses schmale Band zu verbreitern. Und doch ist keine dieser beiden Welten wirklich die Antwort. Auch nicht die Götterwelt … mal so als Bild! Sie ist immer noch eine Idealisierung.
 Erinnert euch an die sechs Daseinsbereiche. Aber klar, verlockend! Erst in diesem Wachstum beginnen wir das ganze Spiel zu durchschauen. Natürlich streben wir nach Freude und Glück… (und idealisieren!) und schließen gerade auf dem spirituellen Weg schnell mal den Schmerz und die Hölle aus … und feiern Gott und die Liebe! Halleluja! Dann versuchen wir alles zu idealisieren und nichts und niemanden mehr entwerten eben. Und doch auch das ist nur ein Spiel!


Wirklicher Frieden ist es, beide Welten in sich zu vereinen, sie als Spiel zu begreifen. Samsara ist auch Nirvana dann, der Teufel ist auch Gott und Gott ist der Teufel … und du, du bist der Kreis ums Yin und Yang – der Horizont um Himmel und Hölle herum … und erst damit wirklich FÜLLE … und alles darin! Und du bist endlich frei in dem, was du bist, und in dem, was ist.

Willkommen Zuhause … Willkommen bei dir.

Aber wie zur Hölle komm ich jetzt eigentlich hier her?