Liebe deinen Nächsten … aber warum?

»Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.«
Das steht doch sogar klar in der Bibel, oder? Nein, tut es nicht!

Zitiert wird dieser Satz sehr oft. Nur selten mit Angabe seiner Quelle. Die soll sich im 3. Buch Mose, dem Buch Leviticus, Kapitel 19, Vers 18 finden.

Auf Hebräisch steht da: »Ve’ahavta l’reacha kamocha ani HVYH« (וְאָֽהַבְתָּ֥ לְרֵעֲךָ֖ כָּמ֑וֹךָ אֲנִ֖י יְהוָֽה׃)

Die Urtexte sind ohne Komma. Das heißt, der Übersetzer entscheidet oft über den Sinn der Verse und die Bezüglichkeit der Worte. Und wir alle wissen, wie heikel das sein kann! Schon ein kleines Komma kann jemandem das Leben retten!

»Hängt ihn nicht, laufen lassen!« – bedeutet etwas völlig anderes als:
»Hängt ihn, nicht laufen lassen!«

Man KANN das Bibel-Zitat also folgenderweise übersetzen:

»Ve’ahavta l’reacha kamocha (**KOMMA**) ani HVYH«
Also: »Liebe deinen Nächsten wie (als) dich selbst, ich bin Dein Gott (JHWH).«

Wobei tatsächlich nicht auszuschließen ist, dass der Satz in seiner Bezüglichkeit besser mit dem Wort „als“ und nicht „wie“ übersetzt werden sollte. (כְּמוֹ, hebräisch: Konjunktion: „wie“ bzw. „als“ oder als Adverb: „als ob“ bzw. „als wärest du er selbst“) Das bemerkte sogar Schopenhauer schon. Also: »Liebe deinen Nächsten ALS dich selbst.«
Das wäre schon eine ganze andere Botschaft, nämlich: erkenne dich auch in ihm! Aber lasst diesen Satz trotzdem mal wirken, denn welchen Sinn macht der Ausruf: „denn ich bin dein Herr / Gott!“ an dieser Stelle? Irgendwie keinen, richtig!, es scheint deplatziert. Hier auch mal die Version der englischen King James Bible zum Vergleich, wie sie exakt da zitiert ist: »But thou shalt love thy neighbour as thyself: I am the Lord.« oder als interlineare Übersetzung: »Love your fellow AS yourself: I am the LORD.«

Doch es geht eben auch anders, dann macht der Ausruf auch Sinn. Genauso können wir das Komma an anderer Stelle erwarten:

»Ve’ahavta l’reacha (**KOMMA***) kamocha ani HVYH«

Dann steht da: »Liebe deinen Nächsten, ich Gott bin wie du (und jeder andere!)«

Entsprechend der Genesis, die dem 3. Buch Mose voransteht, ist der Mensch in Gottes Gleichnis erschaffen. Gott ist wie der Mensch. Nicht der Mensch ist Gott gleich, sagt jetzt der Satz, sondern Gott ist es, der dem Menschen gleich ist und – Ve’ahavt – genau wie wir nach seiner Liebe dursten, so durstet ER nach unserer. Und damit ist Gott eben auch „im Nächsten“ – im Nächsten begegnen wir Gott, so wie in uns selbst.

Daher gilt:

Es gibt keine Übersetzung die gültig ist, außer eurer eigenen!

Ein falsches Komma kann nicht nur Sätze trennen, sondern auch Menschen von Menschen … und Menschen von Gott.

»Liebe deinen Nächsten, so wie dich selbst« bedeutet Vergleich, Spiegelung und Trennung und bestenfalls Sympathie und Empathie … aber ist das LIEBE? Das ist nicht ansatzweise die gleiche Botschaft, wie den anderen als einen Teil von sich zu begreifen, und sich und jeden als Teil von Gott zu erfahren. Nur darin aber würde das Mitgefühl als wirkliche Tugend des Herzens und nicht als reiner Akt der Vernunft erwachsen.

Laozi schrieb vor fast 2500 Jahren einmal über die Tugend: »Wo der große Geist, das Dao, untergegangen ist, da gelangen Menschensinn, Gerechtigkeit und Regeln zur Geltung. Wo Überlegung und Klugheit erscheinen, da einen sie sich mit großer Heuchelei. Wo unter Blutsverwandten kein Friede mehr ist, da predigt man dann Liebe und Familiensinn. Wo Aufruhr das Land regiert, wird gehorsam und Treue gepriesen.« (Daodejing, Absatz 18.)

Ich hatte bereits Artikel über die Genesis verfasst, in wie weit dort überhaupt steht, dass Eva aus Adams Rippe erschaffen wurde. Das ist natürlich völliger Unsinn, vom Patriarchat zusammengesponnen! (Siehe auch hier.) Nun also ein weiterer Artikel.