Der erste Verlierer-Kongress

Mehr Motivation, mehr Reichtum, mehr Erfolg! – das sind die täglichen Heilsversprechen der Werbung in meiner Facebook-Timeline. Hamsterrad 2.0, Selbstoptimierungs-Dünnschiss 8.4. Mehr als geistiges Sodbrennen löst das nicht wirklich bei mir aus, aber ist halt trotzdem lästig. Mein Hirn würde sich einfach nur gern selbst verdauen, nur um diesen Unfug nicht weiter zwischen den Postings meiner Freunde ignorieren zu müssen. Und nichts davon hat etwas mit Erfüllung und Sinn zu tun. Heute also werben sie für den „Gewinner-Kongress“, ein neues Coaching-Event, – natürlich wieder mit „TOP-Speakern“ der Branche … die mit den Tipptopp-Zertifikaten, den Tipptopp-Kundenreferenzen und in irgendeinem Tippy-Toppy-Erfolgs-Magazin waren sie gewiss auch schon dreimal drin.

„Hey Buddy!“, steht da unter der Anzeige, „Klare Strategien für deinen maximalen Erfolg! Dein Erfolg ist nur EINE ENTSCHEIDUNG entfernt!“.

Eine Entscheidung also nur: wirf einfach deine Seele weg, geh über dich, geh auch noch den letzten Schritt aus deinem Herzen raus, heuchle dir eine neue Welt zusammen und mauere dich noch tiefer in deinem verwirrten Kopf ein … das lese ich jedenfalls aus diesen Zeilen heraus.
Ein Artikel aus DER WELT vor ein paar Tagen kommt mir dazu in den Sinn: Es ging u.a. um einen dieser TOP-Speaker, um eine Bühne, um 1200 Besucher. Aus sich raus kommen sollten alle, etwas Unentscheidbares entscheiden und über ihre Grenzen gehen. Nur dort würde das Ankommen warten, dann wäre der Weg zum Selbst und zum Erfolg, auf allen Ebenen natürlich!, endlich frei. Klingt auf den ersten Lauscher einleuchtet, so wie fast alles eben, was da an Methoden aus good-old Amerika rüberschwappt, diesmal aus dem Schauspielunterricht. Heißer Scheiß aus Hollywood also, zurechtgebogen fürs wahre Leben.
Auf einem Tisch hinter der Bühne liegen Dildos, Clownmasken, Frauenkleider, jeder soll sich etwas davon schnappen und damit auf der Bühne GENAU DAS TUN, wovor er sich am meisten schämt und fürchtet. Auch sowas lässt sich mit einem komplexen Gehirn am Ende noch rechtfertigen, jedes Herz würde im Strahl kotzen. Die meisten ziehen sich am Ende einfach „nur“ splitterfasernackt aus und tanzen vor 1200 Menschen mit 1200 offenen Mündern. Dann reißen sie die Arme hoch und lassen sich feiern. Jetzt taugen sie alle zum Schauspieler des Lebens. Bravo! Die Veranstaltung geht bis morgens um vier, der Referent liegt längst im Bett, sein Team rockt derweil die Bühne und passt auf, dass bloss keiner der Teilnehmer einschläft. Ein Hirn, das ansonsten im Leben jeden Faden verloren hat, findet sowas natürlich Klasse und fühlt sich wieder auf Kurs in den sicheren Wahnsinn. Die Spannung, die im Raum liegt, macht für einen Moment aus jedem Clown einen scheinbaren Helden. Passt!
Das letzte bisschen Würde und Selbstrespekt wurde ohnehin an der Tür zum Saal abgegeben, und kein Scheiß: natürlich wurde gleich noch mit unterschrieben, dass man freiwillig hier ist, unter keiner psychischen Störung leidet und den Trainer von jeder Haftung entbindet. Jetzt steht dem maximalen Erfolg nichts mehr im Weg … und wenn doch, ab zum nächsten Seminar, rein in die nächsten Psychospielchen! Dort starrt man dann womöglich seinem völlig fremden Sitznachbar zehn Minuten in die Augen, reißt seine, bei den allermeisten Menschen durchaus hochgesunden!, Schutzbarrieren ein und fühlt sich Irrtümlicherweise eins und verbunden … was der Typ dann zwei Tage später macht ist einem dann allerdings und wenig überraschend wieder scheißegal. Irgendsowas.

Ein „Gewinner-Kogress“ also, – nur noch eine Entscheidung, diesmal wirklich!, und dann ist alles in Butter im Leben … dann kommst du in den Flow of Success.

Ein Verlierer-Kongress kommt mir da stattdessen in den Sinn. „Hey Buddy!“, würde da in der Werbeanzeige stehen, „Kein Plan für Nix! Auch dein nächstes Problem ist nur EINE ENTSCHEIDUNG entfernt!“.
Und im Subtext dann so: … Sei niemand, versuche auch niemand mehr zu werden, dann bist du wieder wahrhaftig. Und das ist in dieser Welt äußerst selten geworden, Wahrhaftigkeit. Hinterfrage mal, wofür du dich hier wirklich abstrampelst und dir dabei die Hände und Füße nur ständig selbst in die Fresse schlägst. Mach deinen Frieden, schalte die Birne ab, sie verkauft dir ohnehin nur die ewigalten Phasen in ewigneuen Wortkleidern als erleuchtend-neue Erkenntnisse. Der Zug des Erfolgs fährt am Ende nur nach Nirgendwo, – und dieser Zwangsoptimismus und -positivismus ist nicht mehr weit von einer Zwangseinweisung entfernt.

Wie der große Poet Kabir dereinst schrieb: „Alle Menschen um mich herum scheinen glücklich und tanzen, nur Kabir ist traurig und betroffen. Doch Kabir weilt im Schoße des Göttlichen, und das Göttliche nährt ihn.“

Der weise Laozi notierte vor über zweitausend Jahren ganz Ähnliches in seinem Daodejing: „O Verblendung, die keine Grenzen kennt! Die Menschen strahlen als feierten sie ein großes Fest. Ich allein liege still, einem Kinde gleich, verlassen wie einer, der keine Heimat kennt, der noch kein Zeichen empfangen hat. Alle Menschen treiben im Überfluss, nur ich allein scheine leer. Ach, ich bin nur ein Narr, verwirrt bin ich, ach verwirrt. Klar sieht die Menge, ich allein wandle im Dunkeln. Froh ist die Menge, so froh, ich allein bin trostlos, trostlos wie das Meer. Doch ich ruhe im Göttlichen, im wahren Sinn, in der Liebe – im Dao. […] Wo der große Sinn verloren geht, machen sich der kleine Menschensinn und die Vernunft breit; wo vermeintliche Klugheit reagiert, dort herrscht die Heuchelei; wo der wahre Friede verloren ist, wird dann umso mehr über die [Selbst-?]Liebe gepredigt. “

Die Nüchternsten scheinen die Weisesten, – die, die nicht wissen, dass sie nichts wissen, sie wissen nichts. Die Ärmsten scheinen die Reichsten, die Gescheiterten die wahrlich Erfolgreichen. Oder um mit den Worten von Erich Fromm zu schließen: „Die Gesunden sind die Kranken, die Kranken sind die Gesunden.“ … Obwohl, ein bisschen Buddha und Bibel am Ende gehen auch noch …

»Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der aus dem Leben führt, und viele sind´s, die auf ihm wandeln. Wie eng ist die Pforte und wie schmal aber der Weg, der zum wahren Leben führt, und wenige sind´s, die ihn finden! […] Selig die Enttäuschten, denn [nur] sie werden getröstet werden.« – Matthäus 7:13,14 & 5:4

»[In noch üblerer Lage befindet sich der unwissende Weltling, der im Nebel falscher Ansichten herumirrt, wobei ihm seine missliche Lage völlig unbewusst ist.] Vergänglich ist alles [und aller Erfolg] und die ganze Welt. Wer diese Wahrheit erkennt, wird satt des Strebens und des Leidens, kennt wohl aber den rechten Weg zum Heile dann. […] Alles Leben ist Leid. Nur wer auch dies verinnerlicht und wem die Selbstaufhebung gelingt, dem ist das Heil sicher.« – Buddha, Theragāthā 676 & Die vier edlen Wahrheiten«

Mahlzeit.