Als ich alles verloren wähnte

Erst als ich alles verloren wähnte
und einfach nicht mehr weiter wusste,
da verstand ich zum ersten Mal,
dass es wirkliche Schuld nicht gibt.
Dass jeder jederzeit sein Bestes
gibt und das Richtige tun will;
dass das Beste aber oftmals leider
viel zu wenig ist, und das Richtige
nur ein etwas weniger Falsches.
Auch begriff ich, dass jeder Mensch eine
große Verantwortung trägt, für sich
selbst, aber auch für andere; dass aber
nur wenige wirklich in der Lage sind,
diese Verantwortung zu übernehmen,
ohne sie anderen unbewusst aufzubürden.
Auch stellte ich fest, dass Vergebung und
Selbstvergebung der einzige Weg ist,
um wirklichen Frieden zu finden; ganz
gleich wie die Umstände sich gestalten.
Erst als ich alles verloren glaubte und
keinen einzigen Schritt mehr weiter wusste,
erst da begriff ich tatsächlich auch den
Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl;
und warum jeder Mensch wirkliches
Mitgefühl verdient, und warum Mitgefühl
keinem eine Last sein muss. Im Gegenteil.
Und ich sah auch, dass ich niemals über
jemanden urteilen kann, dessen Leben
ich nicht durchleben musste. Und
dass seine Lebensgeschichte mir nur
da zur Last wird, wo sie mir die eigene
Lebensgeschichte vor Augen führt,
die ich selbst noch nicht (er)tragen kann.
Als ich nicht mehr weiter wusste, da
verstand ich überhaupt zum ersten Mal,
dass wir Menschen eigentlich gar nichts
wirklich begreifen. Dass wir all das
theoretische Wissen nämlich erst dann
verstehen, wo wir es auch umgesetzt,
erlebt und gefühlt haben.
Als die Welt über mir zusammenbrach,
erwachte ich ebenfalls zur Erkenntnis,
dass ich zwar hohe Mauern um mich
herum errichtet hatte, und unsanft
und übereilt gegen viele Mauern anderer
angestürmt war, dass ich aber selten
gesunde Grenzen ziehen und die Grenzen
anderer richtig respektieren konnte;
dass Mauern eben immer die letzten
Barrikaden sind, wo längst schon alle
Grenzen verletzt wurden; dass ein Berühren
und Begegnen weit vorher geschehen muss;
dass weniger dabei oft so viel mehr bewirkt.
Als nichts mehr ging, und ich nicht
mehr auf die Beine kam, da weinte ich
auch bitter um jeden Tag, den ich überstürzt
durch das Leben gehastet bin, statt im
eigenen Tempo der Seele durch einen Wald
zu schreiten. Und um jeden Schritt
trauerte ich, den ich nicht an der Hand
eines geliebten Menschen gegangen bin.
Als ich allein da lag, da verstand ich,
dass alles Glück dieser Welt nur ein
Glück ist, wo ich es mit anderen
teilen will, aber niemals muss.
Und dass jeder andere ein Teil von mir
und meiner Seele ist, ganz gleich ob ich
ihn liebe, fürchte, neide oder hasse.
In jedem begegne ich mir doch nur selbst.
Da fühlte ich mich wie eine Scherbe…
unter Milliarden von Scherben plötzlich.
Und anstatt weiter nach den wenigen
Bruchstücken zu suchen, die wirklich
exakt an meine Bruchkanten passten,
da begann ich einfach überhaupt mal
damit, Scherben mit mir zu verkleben.
So entstand keine wirklich perfekte
Vase vielleicht, sondern erstmal eher ein
Aschenbecher mit einer Art Rüssel dran
und zwei Flossen. Doch je weiter ich
mich verklebte, desto deutlicher zeigte
sich da etwas wundersam Schönes und
Unvergleichliches darin. Und irgendwann
wird dieses -Ding- fliegen!, daran will
ich nun fest glauben.
Und so will ich all meinen Mut,
und all meine Kraft zusammennehmen,
und mich weiter wagen und weiterkleben.

– janice jakait #NurSoGedanken