Trugbilder der Tugend

Als die menschlichen Tugenden verloren gingen, und als die Herzen immer seltener die Sprache der Bedingungslosigkeit sprachen, da begannen die Menschen mit bedingten Gedanken nach Tugenhaftigkeit, Wahrhaftigkeit und Güte zu streben. Rechtschaffend wollten sie sein, stets das Rechte und Richtige denken, fühlen und tun. Damit war auch erst das Falsche und Unrechte geboren. Mit Ratio, Logik und vermeintlicher Vernunft rangen sie fortan um die natürlichsten Dinge, so wie Liebe, Treue, Freiheit, Achtung und Mitgefühl, – die Tugend bekam einen nachvollziehbaren Grund, machte nun Sinn und wurde zum großen Ziel erklärt. Das Selbstverständlichste der Welt noch musste fortan erst verwirklicht und erreicht werden. Alles diente einem Zweck nun und bekam auch seinen Preis. Wahrhaftige, sanfte, aber tiefe Gefühle wichen lauten und spektakulären Gedanken; große Visionen, Pläne, Träume kamen in die Welt, aber Gegenwärtigkeit, Demut, Dankbarkeit, Vertrauen und Mut starben langsam aus. Und wo sie sich doch noch zeigten, da wurden sie gefeiert und auf die Bühne gezerrt. Alles Echte wurde idealisiert und darin weiter vergeistigt, doch die Menschen spürten sich selbst immer weniger. 
Ihre künstliche Welt drehte sich immer schneller als Scheinwelt unzähliger Gedanken im Kopf. Heuchelei, Hypokrisie, Vorstellungen, Ideale, Werte, Regeln und Gesetze bestimmten da über die Geschickte der Herzen. Die Tugenden selbst wichen Trugbildern, in denen die Jugend heranwuchs; und denen sie zur vermeintlichen Realität geriet. Als die Menschen aus den Tugenden gottgleiche Götzen gemacht hatten, und sie verehrten und anbeteten, da hatten sie endgültig alles Göttliche in sich verloren. Und da wachten sie auf, oft einsam und leer in der Seele, und versuchten nun auch noch mit großer Anstrengung und Absicht wieder absichtslos zu werden; zu fließen, im Augenblick anzukommen und einfach bedingungslos ZU SEIN. Mit Kontrolle und Absicht versuchten sie wieder loszulassen und sich hinzugeben … aber das ist eine andere Geschichte.

»Wo der große Geist verloren ist, da breiten sich Rechtschaffenheit und Heuchelei aus, und da werden Liebe und Treue gepredigt.« – Laozi / Daodejing