Auf halbem Weg

Was du suchst, das sucht auch dich, so heißt es.
Nur müsse man Gott auf halbem Wege entgegenkommen,
ermahnte uns Jesus. Doch wie genau tut man das?
Etwa indem man Gutes tut, gleich einer Mutter Teresa;
die am Ende eines Lebens voller guter Absichten
doch bitterböse und enttäuschte Briefe an Gott schrieb?
Wo wahrhaft Gutes getan wird, bedingungslos,
als Tugend des Herzens, da wirkt Gott bereits in uns.
Doch wo der Geist danach strebt, das Richtige zu tun,
da hat alles seinen Grund und seinen Zweck.
Da handelt er bedingt und entfernt sich genau darin
immer weiter von Gott, der Liebe und aller Tugend.
Wer nur Gutes tut, um gutes Karma anzuhäufen,
dem wird dafür gutes Karma abgezogen,

dieser Satz fasst es ganz wunderbar zusammen.
Wer nur handelt und wirkt, um dem Licht näher zu sein,
der wandelt in einem Schein, der die Dunkelheit verbirgt.
Wer nur ins Leuchten strebt, ohne auch in die Dunkelheit
zu schauen, der bleibt für das wahre Licht ewig blind.
Wo der große Geist, das Dao, verloren ist,
da machen sich Rechtschaffenheit und Heuchelei breit
,
das gab uns Laotse im Daodejing mit auf den Weg …
Da würden Liebe und Menschensinn nur mehr gepredigt.
Wie also kommt man Gott auf halbem Wege entgegen?
Nur indem man sich seine Schatten bewusst macht!
Indem das Wissen solange um Wissen ringt,
bis es erkennen will, dass es überhaupt nichts weiß.
Indem der Wille solange nach Kontrolle und Macht strebt,
bis er erkennen will, dass er absolut machtlos ist.
Dann erst erlangt der Mensch wirkliche Weisheit
und gelangt in den unbändigen Strom der Tugend.
Dann ist er wieder in Gott, so wie Gott in ihm ist.
Dann erst begreift der Mensch, dass gut gemeint
noch lange nicht gut ist; und dass Gottes Maß
jenseits des irdischen Richtig und Falsch angelegt wird.
Wenn das Kartenhaus des kleinen Geistes zusammenfällt,
dann erst ist der halbe Weg zum großen Geist gegangen.
Dafür braucht es den ganzen Mut und größte Ehrlichkeit,
seinen Schatten und Verfehlungen mitfühlend zu begegnen,
und ebenso viele große Enttäuschungen zu erfahren.
Denn nur sie sind das Ende jeder Täuschung …
und damit der Beginn der Wahrhaftigkeit.