Es war einmal …

Nun, es begab sich vor langer Zeit …, im umschuldigen Alter von neunzehn Jahren, dass ich mich im Internat in einer Kammer auf dem Dachboden einquartiert hatte. Eigentlich durfte sie niemand betreten, aber nach einer langwierigen Diskussion mit der Internatsleitung, in der auch noch die fadenscheinigsten Argumente vorgetragen wurden, bekam ich den Schlüssel für den Raum ausgehändigt. Als den Damen und Herren bewusst wurde, was das für einen Aufruhr unter meinen Mitbewohnern auslöste, denn nun wollte selbstverständlich jeder freien Zugang, hatte ich das Zimmer schon bezogen und einfach behauptet, ich hätte nun ein Gewerbe angemeldet, wofür ich diesen Raum und absolute Ruhe benötigte. Ich hätte mich auf die Zusage verlassen, sagte ich. Das war natürlich alles erfunden, aber so kamen sie aus der Nummer nicht mehr raus und überließen mir allein das Zimmer.

Da saß ich nun wie die Gräfin des Hauses, – ein Tisch mit meinem neuen 100 Megaherz!!! Laptop drauf, – das ich mir vom Fahrschulgeld meiner Eltern gekauft hatte -, ein Aschenbecher daneben … und absolute Stille; während sich meine Mitbewohner ein paar Stockwerke unter mir in Drei- oder Vierbettzimmern gegenseitig auf die Nerven gingen. Zumindest hatte ich ihnen meinen alten Computer zum Spielen überlassen. Wenn ich da oben nichts zu tun hatte, – und ich hatte eigentlich nie wirklich was zu tun -, dann stöberte ich NATÜRLICH in den staubigen Schränken und Regalen herum oder suchte die Zugänge zu den Nebenkammern, die ich auch fand. Ihr müsst wissen, das war schon immer meine Leidenschaft, denn ich bin in einer alten, großen Schule aufgewachsen. Und mein Vater war der Hausmeister. Wann immer meine Eltern zum Tanzen aus waren, schnappte ich mir schon als Kind seinen sicher drei Kilogramm schweren Schlüsselbund und bestieg die heilige Schatzkammer der Schule: den Dachboden! Als Kind schätzte ich, dass da wohl seit 500 Jahren alles eingelagert wurde, was für den Unterricht nicht mehr benötigt wurde. Da standen gewaltige Spiegel-Teleskope, Tier-Präparate und sogar alte Skelette für den Biologieunterricht. Das gab es Schlangen in Gläsern und 30 Zentimeter große Teleskop-Spiegel, Brennweite über zwei Meter! – die aus meinem Kinder-Optik-Baukasten eine echte Großsternwarte machten. Nein, wartet, der Baukasten gehörte eigentlich meiner Schwester. Aber stellt euch den Boden der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei vor, und ihr habt ein gutes Bild davon, wie es da oben aussah. Der Dachboden war so groß und so verwinkelt, dass ich auch nach Jahren nicht alles ausgekundschaftet hatte. Es lag also in meiner Natur, im Staub der Jahrzehnte nach Schätzen zu suchen.

Den größten Schatz den ich unter dem Dach des Internats hob, war ein altes Buch, darin fand sich die Geschichte des britischen Abenteurers Percy Harrison Fawcett, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im undurchdringlichen brasilianischen Regenwald auf der Suche nach seinem El Dorado war. Im Kerzenschein und Zigarettendunst verschlang ich das Buch mehrfach. Das wollte ich eigentlich gern sein: Eine Abenteurerin mit Hut und Peitsche! Und obgleich ich schon immer viel Unsinn geschrieben hatte, war dieses Buch auch der Anstoß, endlich selbst ein Buch zu schreiben. Denn auch das wollte ich immer schon werden: Schriftstellerin. Genau genommen schrieb ich damals zwei Bücher. Und die beiden habe ich heute wieder auf einem USB-Stick entdeckt; und ich habe reichlich gelacht. Das erste Buch trug den Titel „Warum Einstein irrte“, das zweite Werk hieß „Sollt ihr doch ewig leben!“ und verstand sich als eine Art dritter Teil zu Goethes Faust. Auch wenn diese beiden Bücher nie veröffentlicht wurden, kann das wohl als die Geburtsstunde meiner Autorenschaft angesehen werden. Es begann also alles auf einem Dachboden vor 23 Jahren im Internat. Wahnsinn! … Und eigentlich begann es schon auf einem Dachboden vor etwa 35 Jahren in der alten Schule.

Neben meinen Abenteuer-Plänen beschäftigte mich als Neunzehnjährige vor allem die Physik und die Zahlentheorie. Im Speziellen die Teilchen- und Astrophysik … und Primzahlen und kryptographische Funktionen, das war meins! Ich schrieb Bücher, Programme und Simulationen, und stets war ich mir sicher, dass die Wissenschaft sich selbst erfindet und die Fundamente aller großen Theoriegebäude nur erdacht und in sich unbeweisbar sind. Schon alles Kind mit fünf Jahren saß ich auf der Schultreppe und zweifelte daran, dass die Welt wirklich so ist, wie sie scheint. Schon damals wähnte ich alles vielmehr als einen Traum, als Bewusstsein bestenfalls, und irgendwann würden wir erwachen. Und so finde ich es gerade heute wieder faszinierend, welchen Bogen mein Leben genommen hat. Da sitze ich nun mit 42 Jahren über uralten spirituellen Schriften und komme zu keinem anderen Schluss, als damals als fünfjähriges Kind: Die Welt ist nicht was sie scheint, ich bin nicht was ich scheine. Was für eine Ironie … 37 Jahre und ich bin kein Stück weiser als dieses kleine neunmalkluge blonde Kind. Und eigentlich würde ich mir auch jetzt am Liebsten einen Hut aufsetzen und in den Urwald verschwinden und Schätze suchen. Im Kern ändern sich die Menschen nie … diesen Satz hatte mir einmal eine Freundin gesteckt. Inzwischen glaube ich, sie hatte Recht, – auch wenn ich damals widersprach und meinte, jeder könne sich ändern! Sein Verhalten vielleicht, aber wohl niemals seinen Wesenskern. Ein Abenteurer bleibt ein Abenteurer, ein Künstler ein Künstler … doch als Bürofachangstellter oder Autoverkäufer wird keiner geboren, die werden gemacht.

Und warum schreibe ich das jetzt ? Nun, eigentlich nur, um wieder einen Text auf diesem USB-Stick speichern zu können. Neben hunderten anderen Texten aus all den Jahrzehnten. Neben dem Tagebuch über meine WIRKLICH erste große Liebe mit siebzehn oder der Situationsanalyse in meinem ersten Alkoholrausch als Teenager. Ich bin gespannt, was ich in 35 Jahren über diese Zeilen denken werde. Ihr findet mich dann sicher auf einem Dachboden, und wenn es im Altenheim ist. Und wenn ich dort nicht bin, dann hab ich vielleicht doch noch El Dorado gefunden!

Das Internat musste ich übrigens nach zwei Jahren wieder verlassen; wir hatten zu viel Marihuana geraucht und dem Internatsleiter auf dem untersten Balkon auf den Frühstückstisch geascht. An den Rest kann ich mich nur noch vage erinnern … nur noch daran, dass wir uns im Zimmer kaputtgelacht und eingeschlossen haben, während er wie wild an der Tür klopfte. Wir dachten, wir hätten nun ALLES verstanden, das ganze Leben wäre ein fantastischer Witz und wir würden jetzt gewiss vor Lachen sterben … ich glaube aber, die nächsten Tage waren dann wieder ziemlich ernst.