Zwei Herzen

In ihrer Unnahbarkeit schien sie auf ihren hohen Absätzen nicht nur elegant über den Asphalt zu schweben, sondern auch über allen Dingen in dieser Welt, – jede kleinste Bewegung ihres Körpers glich einem sinnlichen Tango, nichts an ihr blieb ohne Wirkung, nichts an ihr war ohne Musik. Wer ihr in die großen, warmen Augen schaute, der ertrank fast in der Tiefe ihres Blickes, während ihm gleichzeitig in ihrem Feuer das Blut zu kochen begann. Was für ein Wesen, was für eine Faszination von ihr ausging!

Als er sie vor vier Wochen kennenlernte, und sie sich ihm und seinen vielen Worten langsam öffnete, da wagte er es kaum, nur den kleinen Finger auf ihren Schenkel zu legen, bei jeder anderen Frau läge er längst zwischen ihren Beinen. Wie ein kleiner Junge fühlte er sich plötzlich vor ihr, orientierungslos im Nebel ihrer umfangenden Weiblichkeit, im Duft an ihrem Hals. Selbst sein Atem verfing sich in ihren langen Haarsträhnen. Naiv, grob, töricht und tölpelhaft, so kam er sich vor. Aber natürlich gab er alles, sich das nicht anmerken zu lassen. Doch sie schien alles zu bemerken. Wahrlich alles. Nicht die kleinste Unsicherheit an ihm entging ihr. Und es schien geradezu, als ob genau diese Unsicherheiten sie überhaupt erst nahbar machten und mit ihren tiefen Augen lächeln ließen. Nicht nur mit ihrem großen, sinnlichen Mund.

Hinter ihren langen Wimpern wartete eine Welt auf ihn, die ihn mehr reizte, aber auch weit mehr ängstige, als der stürmische Gipfel des Mount Everest. Gewiss, viele hohe Berge hatte er schon erblickt und auch bezwungen, so meinte er jedenfalls, aber wenn kleine Kinder auf einen Gartenzaun klettern, meinen auch sie sich schon auf dem Dach der Welt. Alles was tatsächlich bisher hinter ihm lag, erschien nur mehr als ein Sandkasten und ein paar kleine Sandburgen. Und die eine oder andere davon hatte er einfach mit seinen Füßen achtlos plattgetreten. Kindergarten.

Hielt er sich bisher immer für einen furchtlosen Abenteurer, dem nichts zu gefährlich war, so hatte er bei dieser Frau keine Vorstellung mehr davon, wie er ihren Gipfel jemals erklimmen könnte, – und selbst wenn es ihm gelänge, spätestens beim Gedanken an den Abstieg wurde ihm ganz schwindelig und das Herz schlug ihm wild in der starken Brust. Würde er ihren Gipfel erklimmen, so würde ihn gleichsam auch ihr Gipfel bezwingen. Zweifellos. Es gäbe keinen Gewinner! Aber dann vielleicht auch keinen Verlierer. Er würde sich höchstens selbst verlieren, und wäre nicht mehr der, der zu ihr hinaufgestiegen ist. Aber was bliebe ihm dann noch anderes in der Welt zu entdecken, wenn er nur erst einmal ganz da oben stünde?! Und wie könnte er dann ohne sie weiterleben, ohne diesen Höhenrausch. Demut vor solch einer Größe war ihm fremd, er wollte diesen Berg beherrschen, ihn kleinmachen, damit er ihn fassen kann, – sie sollte nur sein Berg sein, und das für immer. Doch für jeden einzelnen Höhenmeter, den er machte, stürzte er in diesem Unterfangen fünf Meter in die Tiefe ab. Ganz gleich wie viele Haken und Ösen er in die Wand schlug und an wie vielen Leinen er sich sicherte, diesen Berg konnte er unmöglich an sich ketten. Und schlimmer noch, die Vorstellung, ein anderer Bergsteiger könnte, womöglich noch in seinen Haken und Ösen, den Aufstieg wagen, machte ihn rasend. Also zog es ihn hinauf, so wie es einen heißen Ballon an einem kalten Herbsttag in den Himmel zieht. Und ihm zitterten die Finger beim Gedanken an den Abstieg. Die meisten Bergsteiger am Everest sterben auf dem Weg wieder hinab, sie stürzen ab, sie verirren sich, sie erfrieren.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Was eigentlich als romantischer Abend mit zwei Gläsern Rotwein im Kerzenschein geplant war, endete damit, dass sie seine Küche aufräumte. Bei aller Romantik bekam sie irgendwann einfach nur Hunger. Und er auch. Sie zog sich ihre hohen Stiefel aus und er rührte Mehl, Wasser und Eier an. Er versprach ihr die besten Pfannkuchen der Welt. Er fühlte sich großartig und plötzlich ganz leicht, hoffte, seine Kochkünste morgens halb zwei würde sie beeindrucken. Letztlich hoffen das alle Männer, auch wenn sie nur vier Rühreier braten und ihnen dabei wenigstens keine Eierschalen in die Pfanne fallen. Würde es ihm nun noch gelingen, die Pfannkuchen in die Luft zu werfen und zu wenden, vor ihren Augen, dann müsste sie doch dahinschmelzen. Doch es gelang ihm nicht, gleich der erste Pfannkuchen klatschte ins Spülbecken. Beide lachten. Eine halbe Stunde später saß er satt auf dem Parkett-Boden, – sie schüttelte mit dem Kopf, fragte ob es ein Erbeben gegeben hatte oder ob er immer so chaotisch kochen würde. Wenigstens wusste er viele interessante Dinge zu erzählen und sie zu unterhalten. Zum Beispiel, dass die Flamme einer Kerze keinen Schatten wirft.

So entschied sie sich über Nacht zu bleiben, und ihre ganze Eleganz sprang plötzlich wie ein kleines Mädchen unter die Bettdecke und schämte sich, sich zu entkleiden. Da lächelte er und verstand auf einmal …

Immer wieder war er hin und hergerissen in dieser Nacht, zwischen ihren gefährlichen Reizen, ihrer Tiefe und Sinnlichkeit, aber eben auch dem Gefühl, ihr ein Haus ums Herz bauen zu wollen, in dem sie sich behütet fühlen kann, so zerbrechlich, so rein erschien sie ebenfalls. In ihrem Körper schlugen zwei Herzen, und egal wie groß er ihr das Haus auch bauen wollte, eines ihrer Herzen schlug immer draußen vor der Tür.

Da begriff er, dass er nur ein Haus für ihre Seele bauen könnte, und dass sich diese ihm so leicht nicht offenbaren würde, und schon gar nicht in einer einzigen Nacht. Und viel mehr noch, dass es nur seine Seele ist, die einzig dazu im Stande wäre, ein solch großes Gebäude zu errichten … so groß, dass sie darin endlich frei und ganz wäre(n).