Das Diamant-Sutra

Eine spirituelle Strömung oder Religion kann bestenfalls nur eine nützliche Ideologie sein; ein Konglomerat von anschaulichen Konzepten; ein längerer von vielen Fingern, die auf den Mond zeigen, doch niemals selbst der Mond sein können. Alle Lehren gleichen einem mehr oder eben weniger seetüchtigen Floss, mit dem man einen Fluss überqueren kann. Wenn das andere Ufer aber erreicht ist, gilt es dieses Floss zurückzulassen, es hat seinen Dienst getan. Gleich einem Schlüssel, der seinen Zweck erfüllt hat, wo das Schloss erst einmal geöffnet ist, – dann gilt es nicht mehr am Schlüssel festzuhalten, sondern endlich durch die Tür zu gehen.

Genau daran erinnert das Diamant-Sutra, das zu den bedeutsamsten Texten des Mahayana-Buddhismus zählt; und eben darin ermahnt der Buddha in einer Lehrrede, dass auch der Buddha selbst und alle seine Reden und Lehren letztlich zurückgelassen werden müssen, gleich einem Floss, gleich einem Schlüssel, – seine Aufgabe ist dann erfüllt, auch die Verkörperung eines Buddha glich nur einem Finger, der auf das wahre Selbst wies, doch niemals das Selbst war.

Es gab und gibt kein erleuchtetes Wesen, denn es existiert keine in sich verwirklichte Form und keine wahrhaftige, unabhängige Gestalt – in allem Sinnlichen und Vergänglichen findet sich kein unabhängiger Wesenskern dessen man habhaft werden könnte und der da zu erleuchten wäre. Alles bedingt etwas anderes, nichts ist in sich selbst ganz. Alles ist nur ein Schattenspiel im großen Licht.

„Erleuchtung ist die absolute Enttäuschung für das Ego“¹, es gab niemals wirklich auch nur einen Blumentopf zu gewinnen, geschweige denn eine Erleuchtung zu erringen. Erst wenn dies und alles aufgegeben und verloren ist; wenn die Dunkle Nacht, wie Johannes vom Kreuz sie nannte, den Geist und die Seele vollends umhüllt und sie damit von Verblendung und Ignoranz befreit, dann bricht es herein, dann offenbart es sich wieder, das wahre Licht, und es erleuchtet alle Welten, ja, es ist aller Welten Licht … doch einen Namen hat es nicht.

*¹ Zitat nach Chögyam Trungpa, XI. Trungpa Tulku, Linienhalter und Tertön im tib. Kagyü und Nyingma(-Buddhismus)