Nur ein Finger

Jede Erscheinung ist von einer anderen Erscheinung abhängig, und damit ist alles bedingt und vergänglich. Ganz gleich womit sich unser Bewusstsein auch identifiziert und assoziiert, vergeht es, so vergehen wir ebenso, und wir leiden. Gedanken, Körper, all das und alles in der Welt, und letztlich die Welt selbst, nichts davon kann uns wirklich Halt geben und dauerhaft bestätigen und erfüllen, nichts davon trägt im Kern ein unabhängiges und unbegrenztes Selbst. Diese Aussage ist die Botschaft des Dharma-Siegels, dem gemeinsamen Kern aller buddhistischen Strömungen.

Alles fällt wie Regentropfen hernieder, egal woran wir uns auch klammern, wir befinden uns im freien Fall; richten wir unseren Blick jedoch nur auf die Regentropfen die mit uns herabstürzen, so mag es uns erscheinen, als ob alles still stünde. Das aber ist eine Illusion, ist Ignoranz und ein Ausblenden der Tatsachen.

Ist also alles hoffnungslos?

Absolut und Mitnichten!

Und erst diese ernüchternde Erkenntnis zwingt das Ego in die Knie, sie befreit den Geist von Verblendung und Ignoranz, fügt alles Abgespaltene wieder zusammen, sie löst und befreit das Bewusstsein aus jeder Begrenzung und Verhaftung, und genau darin offenbart sich wieder unsere wahre Natur. Doch kein noch so wacher Geist ist dazu im Stande, sich das unvorstellbare Eine und Ganze vorzustellen, der Geist selbst ist stets nur ein Teil, ist begrenzt, bedingt und assoziiert; jeder Gedanke erschafft sich eine ganz eigene Welt; solange also diese einzige Wahrheit noch nicht im Herzen wohnt, sondern nur im Geist, kann sie bestenfalls ein Finger sein, der auf den Mond zeigt, aber noch nicht der Mond selbst.

Der Geist mit seinen vermeintlichen Wahrheiten erscheint in dem, was wirklich ist; was aber wirklich ist, passt niemals in den Geist hinein; die Wirklichkeit ist nichts als die reine und ungefilterte Erfahrung der gesamten Schöpfung in uns selbst … in Gott, in Allah, in Brahman, im Selbst, im Dao … im eigentlich Namenlosen, von dem sich der Geist kein Bild und keine Vorstellung machen kann. Der Versuch allein schon ist die Garantie, zu scheitern; da mag der Geist auch im Kreis tanzen und inbrünstig davon singen, dass alles eins ist, es hilft nichts – jeder Gedanke ist eine andere Welt. Die Wahrheit wohnt nur in der Stille hinter den Gedanken; keine Erklärung, kein Urteil, keine Assoziation, keine Verhaftung mehr.