Das Gedicht der Benming

Weißt du denn nicht,
dass Leiden und Beschwerden
nichts anderes sind als Weisheit;
dass es aber eine große Torheit ist,
sich darin zu verlieren?
Wenn sie erscheinen und dahinschmelzen,
dann denke daran, dass der Sperber
durch das ganze Reich Silla¹ fliegt,
ohne dass auch nur
ein einziger Mensch Notiz davon nimmt.
Weißt du denn nicht,
dass Leiden und Beschwerden
nichts anderes sind als Weisheit;
und dass die reinsten Blüten²
im Morast erblühen?
Wenn jemand käme, um mich zu fragen,
was ich hier eigentlich tue:
Ich esse meine Grütze und meinen Reis,
dann wasche ich meine Schüssel aus.
Das ist alles!³
Also mach dir keine Sorgen!
Mach dir um nichts Gedanken!
Du magst den ganzen langen Tag
wie ein naives Kind im Sand spielen,⁴
doch du musst dir stets dabei
deiner wahren Natur bewusstbleiben.⁵
Wenn du unter den Stockschlägen
eines großen Meisters leidest:
nun, wenn du etwas zu erwidern hast,
zerbricht dich der Schlag,
und wenn du nichts zu erwidern weisst,
so zerbricht er dich ebenfalls.
Was kannst du am Ende schon tun,
wenn dir eine Reise in der Nacht untersagt ist,
du aber zum Sonnenaufgang da sein musst.⁶

(Verfasst von der Chan-Nonne Benming (Daoren Mingshi), Song Dynastie, 12. Jh;

übersetzt ins Deutsche: J. Jakait)

Anmerkungen:

¹) Königreich Silla, heute Korea ( 57 v.Chr. – 935 n.Chr.)
²) Gemeint sind natürlich Lotusblüten
³) Bezieht sich auf berühmten Diskurs von Zhaozhao (Koan)
⁴) Sie bezieht sich auf das Lotus-Sutra: „Jungen die aus Sand bauen“

⁵) ex. „Wahres Gesicht“ = Buddha-Natur; das Erschauen bedeutet: Erleuchtung.
⁶) Nachtreisen waren in der Song-Dynastie verboten, beliebtes Chan-Motiv für ein Paradox.